„Dresden starb
mit dir, Johanna“ von Henri Coulonges
Plötzlich Alarm, alle strömen zu den Ausgängen. Zwei Kinder
flüchten nachts durch eine brennende Stadt, die im Bombenhagel untergeht. Den
Überlebenskampf der Menschen in Dresden schildert der Autor derart plastisch
und mitreißend, dass man sich der Erzählung nicht entziehen kann. Man irrt
praktisch gemeinsam mit Johanna durch die Stadt.
„Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war. Alle ihre
Tore stehen öde. Wie liegen die Steine des Heiligtums vorn auf allen Gassen
zerstreut. Er hat ein Feuer aus der Höhe in meine Gebeine gesandt und es lassen
walten.“ Die Trauermotette
vom Kreuzkantor Rudolf Mauersberger, die er unter den Eindrücken der
Zerstörung Dresdens schrieb, zementiert sich untrennbar von diesen Bildern in
meinen Kopf. Es ist, als hätte Coulonges den Inhalt dieses Musikstückes in
prosaische Texte gegossen. Nicht zuletzt auch weil die Protagonistin Johanna im
Großen Garten und später im Haus Riedenberg auf den „Chorleiter des
Kreuzchores“ trifft, der in diesem Roman Hans Kerbratt heißt, ergeben sich hier
Parallelen.
Der Roman spielt in dem kurzen Zeitabschnitt von der
Bombennacht am 13.2.1945 in Dresden bis zur Deutschen Kapitulation am 8.5.1945.
Er schreibt vom Leben eines Mädchens, dass das Pech hatte im zweiten Weltkrieg
aufzuwachsen. Das Buch ist in drei Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt
beschreibt Johannas Erlebnisse in der Bombennacht und unmittelbar danach. Der
zweite Teil beschreibt ihren Aufenthalt im Haus Riedenberg beim Chorleiter und
Franz und der dritte Teil beschreibt ihren Aufenthalt in Prag beim
Archäologieprofessor Josef Hutka. Allerdings schafft es das Buch nach dem
ersten Teil nicht die Spannung, Authentizität und Dramatik aufrecht zu erhalten.
Zwölf Jahre alt ist Johanna, als sie mit ihrer Freundin
Hella einen Zirkus zur Fastnacht besucht und die Dresdner Bombennacht über sie
hereinbricht. Damit verändert sich alles. Vor dem Angriff lebte Johanna mit
ihrer Mutter Leni und ihrer Schwester Grete in einem Villenviertel der Stadt.
Bis zu jenem Zeitpunkt hatte der Krieg Dresden verschont. Nachdem sie der
Feuerhölle entkommen ist, kehrt Johanna zu ihrem Wohnhaus und ihrer Familie
zurück – das Haus wurde getroffen, die Schwester ist tot, ihre Mutter von dem
Ereignis verstört und völlig neben sich.
Im zweiten und dritten Teil passiert von der Handlung her in
etwas genauso viel, wie in Fontanes „Effi Briest“. Aber der Autor (und
Übersetzer) vermag es zwar mit Worten so geschickt umzugehen, dass man
emotional bei den Protagonisten ist und ihr Schicksal mitempfindet, das Buch
hat jedoch seine Längen
Johanna schafft es, ihre Mutter bis nach Dippoldiswalde zu
einem Waldhaus zu lotsen, und Coulonges thematisiert Heimatlosigkeit und Flucht.
Im Wald kommen sie beim Chorleiter und seinem Chor für ein paar Tage unter. Johanna
lernt Franz kennen. Leni versucht zu fliehen und wird von einer Gruppe
Rotarmisten vergewaltigt. Da Leni unberechenbar ist und dringend psychologische
Hilfe braucht, beschließt Kerbratt Johanna in eine Klinik nach Prag zu senden.
Während ihre Mutter dort behandelt wird, lebt Johanna bei Professor Hutka. Auch
wenn der dritte Teil ein bisschen so geschrieben ist, wie Sofies Welt für
Archäologen, so ist dieser Teil dennoch der einzige, der sich auch politisch
und ideologisch der Zeit nähert und sich mit der Schuldfrage auseinandersetzt.
Ob wir es der ungewöhnlichen Biographie des Übersetzers oder
dem Autor selbst verdanken. dass politischen Aussagen in den ersten beiden
Teilen komplett übergangen wurden, vermag ich nicht zu sagen.
Im Original lautet der Titel des Buches „L'adieu à la femme
sauvage“, was in etwa bedeutet: Abschied von der wilden Frau. Warum das Buch
also auf Deutsch „Dresden starb mit dir, Johanna“ heißt, fragte ich mich das
gesamte Buch über. Ist denn Dresden gestorben zu dem Zeitpunkt an dem Johanna
starb? Auch ein Artikel, der in der Zeit vom
22.2.1985 über das Buch erschien, nennt den Titel irreführend. Das Buch
erschien bereits 1979, die Übersetzung 1984. Vielleicht war Dresden zu dem
Zeitpunkt des Zenits der DDR-Zeit eine mehr oder weniger tote Stadt. Viele
sagen ja, dass Dresden erst durch den Wiederaufbau der Frauenkirche 2005 wieder
„geheilt“ wurde. Heute jedenfalls erblüht Dresden wieder mehr denn je. Jedoch
mit einem leicht verschobenen Komma ergibt der Titel wesentlich mehr Sinn:
„Dresden starb, mit dir Johanna“. Somit wäre ihr Tod quasi die kausale Folge
aller Ereignisse nach der grausamen Zerstörung Dresdens.
Johanna kämpft ihren Kampf zwischen Hoffnung und
Verzweiflung und verliert am Schluss.
Sie erlebt die Zerstörung ihrer Kinderheimat als Beginn einer
größeren Zerstörung und schließlich auch der Zerstörung ihres eigenen Lebens.
Es ist ein langsames Abschiednehmen von der „wilden Frau“, ihrer völlig
verstörten Mutter Leni. Es ist ein Abschied nehmen von der Heimat, Abschied
nehmen von der Kindheit, Abschied nehmen von den Freunden und schließlich
Abschied vom Leben.
Auch wenn Johanna für eine Zwölfjährige bisweilen sehr
kindlich dargestellt wird, hofft man mit ihr, dass sie einen Neuanfang nach all
dem Chaos finden kann. Deshalb kommt das Ende des Buches wie ein unerwarteter
Paukenschlag, der einen entsetzt zurücklässt. Das Buch ist wahrlich keine
leichte Lektüre und es findet kein Happy End. Genauso, wie es für über 23.000
Menschen in Dresden kein Happy End gab. Der Roman erzählt die Geschichte all
jener, die die Bombennacht in Dresden erlebt und überlebt haben. Es ist ein
Mahnmal für alle, das zeigt, was Krieg mit Menschen anrichten kann und wie
Krieg ganze Generationen zerstört und traumatisiert. Dafür erhielt Coulonges
auch den höchsten französischen Literaturpreis, den Grand Prix der Académie
Française.
Bildnachweise:
Deutsche Fotothek [CC BY-SA 3.0 de
(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia
Commons
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fotothek_df_roe-neg_0000095_005_Zerst%C3%B6rter_Stra%C3%9Fenzug_mit_Blick_auf_Lukaskirche.jpg
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