LTI von Victor Klemperer
In Zeiten, in denen
Parteien Tilgung
des von Naziworten aus der deutschen Sprache fordern und Zeitungen sich fragen,
ob „entsorgen“
eigentlich ein „Naziwort“ sei, ist es notwendig geworden sich mit der Sprache
der Nationalsozialisten wirklich einmal auseinanderzusetzen.
Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus hat die Gesellschaft bisher ein bisschen vor sich
hergeschoben. Es wurde nur wenig untersucht, wie tiefgreifend der
Nationalsozialismus beispielsweise auch unsere Sprache verändert hat.
Wer sich mit der Sprache des Dritten Reiches beschäftigt,
kommt um einen Autor nicht herum: Viktor
Klemperer. Der deutsch-jüdische Literaturprofessor überlebt die
nationalsozialistische Diktatur (nicht zuletzt auch dank seiner Ehefrau – und
das in zweierlei Hinsicht, nämlich physisch und psychisch) und auch die Dresdner
Bombennacht vom 13. Februar 1945 überleben er und seine Frau wie durch ein
Wunder. Hingegen die Akten über ihn, den Juden, verbrennen. Er rettet ebenso
seine jahrelang geführten Aufzeichnungen über die Sprache des Dritten Reichs
und sein Tagebuch. Sowohl die LTI als auch sein Tagebuch sind beeindruckende
und gleichzeitig erschreckende Zeugnisse der Schreckensherrschaft der
Nationalsozialisten. Für sein Werk erhielt er später mehrere hohe
Auszeichnungen.
LTI, so nennt Klemperer sein Werk, bedeutet ausgeschrieben
Lingua Tertii Imperii, was so viel bedeutet, wie „Sprache des Dritten Reiches“.
Literarisch lässt es sich kaum einordnen. Es ist weder ein reines Fachbuch,
noch eine reine Anekdotensammlung. Klare sachliche Sprachanalysen werden immer
wieder ergänzt durch viele Anekdoten und Erinnerungen Klemperers. Immer wieder
berichtet Klemperer von Episoden, in denen er dieses oder jenes Wort aufgeschnappt
hat.
Er schildert die Situation in deutlichen, eindrucksvollen
Bildern. Es ist schon fast bedrückend, wie sachlich er bleiben kann, angesichts
der Grausamkeiten, über die er berichtet. Er erklärt auch zu vielen Begriffen
deren ursprüngliche Herkunft und Bedeutung. Anschließend arbeitet er heraus wie
es die Nazis verwendet und verfremdet oder umgedeutet haben und wertet
bisweilen auch die Reaktion der Bevölkerung auf solche Worte aus. Sein
Schreibstil ist präzise und durchdacht und dabei gleichzeitig sehr sprachgewaltig
und facettenreich, dennoch ist seine Botschaft klar und deutlich: Faschismus,
Rassismus und Antisemitismus kann man nicht immer an den Taten eines Menschen
sehen, aber seine Sprache verrät ihn. Das ist heute nicht anders, wenn man sich
die Hasspostings im Netz ansieht.
Und genau daran fühlte ich mich beim Lesen des Buchs oftmals
erinnert. Im Grunde genommen benutzen Demagogen damals wie heute die gleichen
Begriffe und die gleichen Propagandaformen, wie man an einer Rede von Goebbels
im Sommer 1944 erkennt, die Klemperer zitiert: „Wir stehen im „heiligen
Volkskrieg“, wir stehen in der „größten Krise der abendländischen Menschheit“
und müssen unseren geschichtlichen „Auftrag“ ausführen.“ Das sollte damals
Sehnsucht nach dem Märtyrerturm schaffen. Heute verwendet der IS dieselben
Formulierungen.
Klemperer schreibt über Hitler: „Er hat immer nur Brocken
von Allerweltsbildung aufgeschnappt, nur immer wieder nachgebetet und
übertrieben was er für sein Irrsinnssystem gebrauchen konnte. [… Er stellt]
alles Aufgeschnappte unweigerlich so dar, wie es mitreißende Wirkung auf
primitive Menschen tut.“ Und mitebensolchen Halbwahrheiten funktioniert Propaganda
heute immer noch.
Die Nationalsozialisten versuchten damals eine Festung
Europa zu schaffen, um den jüdisch-asiatischen Bolschewismus von Europa
abzuwehren. Man sprach von den Ideen des Abendlandes, die man gegen das
Asiatentum verteidigte. Deutschland sah sich als „Ordnungsmacht“, die die
„Festung Europa“ verteidigt.
Zwischendurch war ich mir beim Lesen nicht immer sicher, ob
das Buch wirklich 1957 herausgekommen ist oder doch eher 2015 weil sich die
Beschreibungen so ähnelten. Mit dem wettern gegen „das System“ wurde die
Vorgängerregierung der Weimarer Republik verunglimpft.
Die Judenfeindschaft wurde ins Lächerliche verzerrt: „der
schwarzhaarige Judenjunge lauert mit satanischem Grinsen der arischen Blondine
auf, um in ihr die germanische Rasse zu schänden, und das mit der Absicht, die
eigene niedrige Rasse, das Volk der Juden zur angestrebten Weltherrschaft zu
führen. […] Die Juden haben nach dem Ersten Weltkrieg den Neger an den Rhein
gebracht, um durch zwangsläufige Bastardierung die weiße Herrenrasse zu
stören.“
Das klingt ein bisschen nach neumodischen
Verschwörungstheorien oder AfD-Hasskommentaren bei Facebook.
Die Nationalsozialisten nutzten die von der Verfassung
gewährten Rechte, wenn sie in ihren Büchern und Zeitungen den Staat der Weimarer
Republik in all seinen Einrichtungen und leitenden Gedanken mit allen Mitteln
der Satire und der eifernden Predigt zügellos angriffen. Auch das kommt mir
wiederum sehr bekannt vor.
Und ein paar Seiten weiter gibt er sogar noch eine Erklärung
für Fake News: „Wir haben beide die gleiche Freude am Übertreiben und wissen
beide wie es gemeint ist – also lüge ich ja gar nicht, du subtrahierst schon
von selber das Nötige, und von meiner Anpreisung geht keine Täuschung aus, sie
prägt sich dir durch superlativische Form noch fester und angenehmer ein.“
Wie auch wir heute, hielt Klemperer das Umsichgreifen des
Nationalsozialismus lange Zeit für „eine nichtige und vorübergehende Verirrung
weniger unmündiger Unzufriedener“. Er schreibt im vierten Kapitel: „Dass sich
diese Gesinnung einmal in Taten umsetzen, dass Gewissen, Reue, Moral eines
ganzen Heeres, eines ganzen Volkes wirklich einmal ausgeschaltet werden
könnten, hielt ich damals noch für unmöglich. Das ganze schien mir die wilde
Fantasie eines aus dem Gleichgewicht gebrachten Einzelnen.“
Im 29. Kapitel schreibt der Autor über seinen Unglauben, der
vielen von uns heute bekannt vorkommen dürfte: „Ich war meines Deutschtums,
meines Europäertums, meines Menschenturms, meines 20. Jahrhunderts so sicher.
[…] Rassenhass? Heute doch nicht, hier doch nicht – in der Mitte Europas! Auch
Kriege waren gewiss nicht mehr zu erwarten, in der Mitte Europas nicht.“ Wir
können ebenso, wie der Autor, nicht in die Zukunft sehen. Aber Gegenwart und
Zukunft gleichen sich manchmal mehr, als man ahnt.
Nicht umsonst hat sich George Orwell für seinen Dystopie-Roman „1984“ so häufig bei Klemperer bedient. Auch im Nationalsozialismus durfte die gesamte Presse nur veröffentlichen, was ihr von einer Zentralstelle aufgegeben wird. Bücher sind für Juden verboten und ein kostbarer Besitz. An einer anderen Stelle erzählt er von einem Spruchband „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ Klemperer interpretiert: „Das bedeutet du bist nie mit dir selbst, nie mit den deinen allein, du stehst immer im Angesicht seines Volkes.“
Und eine dritte Stelle macht es überdeutlich: „Die LTI ist
ganz darauf gerichtet den einzelnen um sein individuelles Wesen zu bringen, ihn
als Persönlichkeit zu betäuben, ihm zum gedanken-und willenlosen Stück einer in
bestimmter richtungsgetriebenen und gehetzten Herde […] zu machen.“ George
Orwell in Reinform.
Die Nazis wussten: Sprache lenkt auch das Gefühl und steuert
das ganze seelische Wesen.
„Das Gift ist überall. Im Trinkwasser der LTI wird es
verschleppt, niemand bleibt davon verschont“, konstatiert Klemperer. Die
Sprache verändert sich als erstes, Kunst, Kultur, Musik und Architektur folgen
ihr nach, pflegt mein Vater zu sagen. Und Klemperer schrieb: „Denn ein Wort
oder eine bestimmte Wortfärbung oder Wortwertung gewinnen erst da innerhalb
einer Sprache Leben, sind erst da wirklich existent, wo sie in den
Sprachgebrauch einer Gruppe oder Allgemeinheit eingehen und sich eine Zeit lang
darin behaupten. “Wenn sich die Sprache „in den Köpfen etabliert hat, dann kann
man zur Tat schreiten.“, schreibt Hanna Zobel in einem Artikel
zur Nazisprache, (dem ein kleiner Selbsttest
angehängt ist…).
Als Literaturprofessor hat Klemperer das passende
Handwerkezeug zur Sprachanalyse und zum Sprachvergleich. Aber er analysiert
nicht nur aus linguistischer Sicht, sondern eben auch aus historischer, aus
menschlicher und aus religiöser Sicht. Diese Mischung der Analyse schafft eines
der komplexesten Werke über den Nationalsozialismus, was unsere Zeit zu bieten
hat. Kaum ein anderes Buch vermag es so genau zu erklären, woher nazistischer
Antisemitismus kommt, wie Deutschtum sich hält, wie Rassismus in der
Bevölkerung herausgebildet wird und wie systematisch die Nazis in ihrer
(sprachlichen) Propaganda waren. Aus den hunderten Beispielen Klemperers setzt
sich ein unverfälschtes Bild zusammen über die langfristig angelegte
ideologische und sprachliche Propaganda-Taktik der Nazis.
Jedes Kapitel hinterlässt einen bleiernen, pappig-trockenen
Nachgeschmack. Am eindrücklichsten bleibt mir das 18. Kapitel „Ich glaube an
ihn“ in Erinnerung. Darin wird gezeigt wie die Nazis mit religiösen Floskeln
gezielt auch den Letzten versuchten psychologisch zu vereinnahmen. „Der
Nazismus wurde von Millionen als Evangelium hingenommen, weil er sich der Sprache
des Evangeliums bediente“, erklärt Klemperer. Mitleid und Ohnmacht geben sich spätestens
nach dem Lesen dieses Kapitels die Hand. Viel stärker aber wiegen Hilflosigkeit
und Scham gegenüber der vorangegangenen Generationen, die das nicht unterbunden
haben. Waren es den alle leichtgläubige, leicht mit Sprache zu manipulierende
Affen? Gewiss nicht. Aber nicht jeder hinterfragt jedes Wort, was er hört nach
seiner Bedeutung und Herkunft, sondern benutzt es, weil es überall um ihn herum
verwendet wird. Er erlernt seine Bedeutung und frisst so in kleinen Happen die
tödliche Ideologie.
Und das traf damals vor allem die Kinder. Klemperer
berichtet von alten Lehrbüchern und einem Atlas für die Schule, den er auch
nach dem Niedergang des Dritten Reiches fand. Zu den bunten geographischen
Karten schrieb er: „Wie muss heute die Welt in einem Kopf aussehen, dem alles
das in früher und widerstandsloser Kindheit farbig eingeprägt wurde!“
Klemperer notierte sich ein einem der letzten Kapitel
selbst: „man muss den künftigen Lehrer auf die Eigenart und Sünde der LTI genau
hinweisen“.
Bildung ist auch hier das Schlüsselwort. Ein erneutes
Aufkommen rechtsradikalen Gedankenguts kann man nur nachhaltig unterbinden,
wenn junge Menschen verstehen, wie stark Sprache und Sprachveränderung,
Sprachverwendung und Sprachmanipulation wirken kann. Deswegen vertrete ich die
Ansicht, dass „LTI“ in den
Literaturkanon deutscher Gymnasien gehört. Wenn man weiß, wie diese
Manipulation funktioniert, ist man eher davor gefeit ihrer zu erliegen und in
der Lage sie zu erkennen und sich dagegen zu wehren. Denn, zuerst zielt
nazistische Sprache auf die „dumme Masse“ ab, die sich leicht beeinflussen
lässt. Klemperer erklärt immer wieder, dass alles darauf angelegt war das
eigene Denken zu trüben oder auszuschalten und, dass die Nationalsozialisten
dafür den Fanatismus in den Himmel hoben, damit den Zustand eines umnebelten
Geistes mit tapfer, hingebungsvoll und beharrlich gleichsetzten und „Philosophie“
in „Weltanschauung“ umdeuteten.
Da die Nazis im Vorfeld schon systematisch die gefürchtete
Intelligenzschicht als „krummnasigem Intellektualismus“ diffamiert hatten,
hörte den Schlauen keiner mehr zu und die Nazis konnten einfach das Denken
durch das Gefühl ersetzen – das Gefühl für Tradition und Brauchtum.
Heute sind es wieder die Studenten, die gegen Pegida und Co.
auf die Straße gehen. Anfang Februar 2018 gab es dazu einen sehr guten Artikel
in der Zeit über die Verantwortung
der Studenten. Die Autorin schreibt, wie heute wieder „die Eliten“ von
außen her (von links und rechts) angegriffen werden: „Wer Elite ist, ist nicht
Volk, und wer Volk ist, ist nicht Elite.“ Der Artikel sieht die Entfernung von
Volk und „Establishment“ als größte und wichtigste Ursache für den Aufstieg des
weltweiten Populismus. Auch hier erkenne ich Klemperer wieder.
Doch selbst wenn sich
Studenten und Abiturienten ihrer Verantwortung wieder bewusst werden, so
dürfen es nicht nur die Klugen sein, die sich wehren. Wehren gegen den blinden
undifferenzierten Hass des Unbekannten, des Fremden muss sich jeder, der bei
Sinn und Verstand ist. Und wehren muss man sich auch gegen den Hass wider die
eigenen Eliten des Landes. Im Zweifelsfalle sind es die Eliten, die Gebildeten,
die als einzige ein erneutes radikales Massendenken erkennen und zu verhindern
wissen. Denn wir sind heute schlauer als damals, wir haben es schon erlebt und
es gibt Zeugen. Wir müssen nur auf die Zeugen hören und daraus lernen.
Hier noch eine interessante Diplomarbeit zur „Sprache der NS-Propaganda“
Bildnachweise:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d9/Bundesarchiv_Bild_183-S90733%2C_Victor_Klemperer.jpg
Bundesarchiv, Bild 183-S90733 / Kemlein, Eva / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de
(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia
Commons
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