Freitag, 11. Mai 2018

Rezension: LTI – Notizbuch eines Philologen (Lingua Tertii Imperii) von Victor Klemperer




LTI von Victor Klemperer

In Zeiten, in denen Parteien Tilgung des von Naziworten aus der deutschen Sprache fordern und Zeitungen sich fragen, ob „entsorgen“ eigentlich ein „Naziwort“ sei, ist es notwendig geworden sich mit der Sprache der Nationalsozialisten wirklich einmal auseinanderzusetzen.

Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat die Gesellschaft bisher ein bisschen vor sich hergeschoben. Es wurde nur wenig untersucht, wie tiefgreifend der Nationalsozialismus beispielsweise auch unsere Sprache verändert hat.

Wer sich mit der Sprache des Dritten Reiches beschäftigt, kommt um einen Autor nicht herum: Viktor Klemperer. Der deutsch-jüdische Literaturprofessor überlebt die nationalsozialistische Diktatur (nicht zuletzt auch dank seiner Ehefrau – und das in zweierlei Hinsicht, nämlich physisch und psychisch) und auch die Dresdner Bombennacht vom 13. Februar 1945 überleben er und seine Frau wie durch ein Wunder. Hingegen die Akten über ihn, den Juden, verbrennen. Er rettet ebenso seine jahrelang geführten Aufzeichnungen über die Sprache des Dritten Reichs und sein Tagebuch. Sowohl die LTI als auch sein Tagebuch sind beeindruckende und gleichzeitig erschreckende Zeugnisse der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Für sein Werk erhielt er später mehrere hohe Auszeichnungen.

LTI, so nennt Klemperer sein Werk, bedeutet ausgeschrieben Lingua Tertii Imperii, was so viel bedeutet, wie „Sprache des Dritten Reiches“. Literarisch lässt es sich kaum einordnen. Es ist weder ein reines Fachbuch, noch eine reine Anekdotensammlung. Klare sachliche Sprachanalysen werden immer wieder ergänzt durch viele Anekdoten und Erinnerungen Klemperers. Immer wieder berichtet Klemperer von Episoden, in denen er dieses oder jenes Wort aufgeschnappt hat.

Er schildert die Situation in deutlichen, eindrucksvollen Bildern. Es ist schon fast bedrückend, wie sachlich er bleiben kann, angesichts der Grausamkeiten, über die er berichtet. Er erklärt auch zu vielen Begriffen deren ursprüngliche Herkunft und Bedeutung. Anschließend arbeitet er heraus wie es die Nazis verwendet und verfremdet oder umgedeutet haben und wertet bisweilen auch die Reaktion der Bevölkerung auf solche Worte aus. Sein Schreibstil ist präzise und durchdacht und dabei gleichzeitig sehr sprachgewaltig und facettenreich, dennoch ist seine Botschaft klar und deutlich: Faschismus, Rassismus und Antisemitismus kann man nicht immer an den Taten eines Menschen sehen, aber seine Sprache verrät ihn. Das ist heute nicht anders, wenn man sich die Hasspostings im Netz ansieht.

Und genau daran fühlte ich mich beim Lesen des Buchs oftmals erinnert. Im Grunde genommen benutzen Demagogen damals wie heute die gleichen Begriffe und die gleichen Propagandaformen, wie man an einer Rede von Goebbels im Sommer 1944 erkennt, die Klemperer zitiert: „Wir stehen im „heiligen Volkskrieg“, wir stehen in der „größten Krise der abendländischen Menschheit“ und müssen unseren geschichtlichen „Auftrag“ ausführen.“ Das sollte damals Sehnsucht nach dem Märtyrerturm schaffen. Heute verwendet der IS dieselben Formulierungen.
Klemperer schreibt über Hitler: „Er hat immer nur Brocken von Allerweltsbildung aufgeschnappt, nur immer wieder nachgebetet und übertrieben was er für sein Irrsinnssystem gebrauchen konnte. [… Er stellt] alles Aufgeschnappte unweigerlich so dar, wie es mitreißende Wirkung auf primitive Menschen tut.“ Und mitebensolchen Halbwahrheiten funktioniert Propaganda heute immer noch.
Die Nationalsozialisten versuchten damals eine Festung Europa zu schaffen, um den jüdisch-asiatischen Bolschewismus von Europa abzuwehren. Man sprach von den Ideen des Abendlandes, die man gegen das Asiatentum verteidigte. Deutschland sah sich als „Ordnungsmacht“, die die „Festung Europa“ verteidigt.

Zwischendurch war ich mir beim Lesen nicht immer sicher, ob das Buch wirklich 1957 herausgekommen ist oder doch eher 2015 weil sich die Beschreibungen so ähnelten. Mit dem wettern gegen „das System“ wurde die Vorgängerregierung der Weimarer Republik verunglimpft.
Die Judenfeindschaft wurde ins Lächerliche verzerrt: „der schwarzhaarige Judenjunge lauert mit satanischem Grinsen der arischen Blondine auf, um in ihr die germanische Rasse zu schänden, und das mit der Absicht, die eigene niedrige Rasse, das Volk der Juden zur angestrebten Weltherrschaft zu führen. […] Die Juden haben nach dem Ersten Weltkrieg den Neger an den Rhein gebracht, um durch zwangsläufige Bastardierung die weiße Herrenrasse zu stören.“
Das klingt ein bisschen nach neumodischen Verschwörungstheorien oder AfD-Hasskommentaren bei Facebook.

Die Nationalsozialisten nutzten die von der Verfassung gewährten Rechte, wenn sie in ihren Büchern und Zeitungen den Staat der Weimarer Republik in all seinen Einrichtungen und leitenden Gedanken mit allen Mitteln der Satire und der eifernden Predigt zügellos angriffen. Auch das kommt mir wiederum sehr bekannt vor.

Und ein paar Seiten weiter gibt er sogar noch eine Erklärung für Fake News: „Wir haben beide die gleiche Freude am Übertreiben und wissen beide wie es gemeint ist – also lüge ich ja gar nicht, du subtrahierst schon von selber das Nötige, und von meiner Anpreisung geht keine Täuschung aus, sie prägt sich dir durch superlativische Form noch fester und angenehmer ein.“

Bundesarchiv Bild 183-S90733, Victor KlempererWie auch wir heute, hielt Klemperer das Umsichgreifen des Nationalsozialismus lange Zeit für „eine nichtige und vorübergehende Verirrung weniger unmündiger Unzufriedener“. Er schreibt im vierten Kapitel: „Dass sich diese Gesinnung einmal in Taten umsetzen, dass Gewissen, Reue, Moral eines ganzen Heeres, eines ganzen Volkes wirklich einmal ausgeschaltet werden könnten, hielt ich damals noch für unmöglich. Das ganze schien mir die wilde Fantasie eines aus dem Gleichgewicht gebrachten Einzelnen.“
Im 29. Kapitel schreibt der Autor über seinen Unglauben, der vielen von uns heute bekannt vorkommen dürfte: „Ich war meines Deutschtums, meines Europäertums, meines Menschenturms, meines 20. Jahrhunderts so sicher. […] Rassenhass? Heute doch nicht, hier doch nicht – in der Mitte Europas! Auch Kriege waren gewiss nicht mehr zu erwarten, in der Mitte Europas nicht.“ Wir können ebenso, wie der Autor, nicht in die Zukunft sehen. Aber Gegenwart und Zukunft gleichen sich manchmal mehr, als man ahnt.


Nicht umsonst hat sich George Orwell für seinen Dystopie-Roman „1984“ so häufig bei Klemperer bedient. Auch im Nationalsozialismus durfte die gesamte Presse nur veröffentlichen, was ihr von einer Zentralstelle aufgegeben wird. Bücher sind für Juden verboten und ein kostbarer Besitz. An einer anderen Stelle erzählt er von einem Spruchband „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ Klemperer interpretiert: „Das bedeutet du bist nie mit dir selbst, nie mit den deinen allein, du stehst immer im Angesicht seines Volkes.“


Und eine dritte Stelle macht es überdeutlich: „Die LTI ist ganz darauf gerichtet den einzelnen um sein individuelles Wesen zu bringen, ihn als Persönlichkeit zu betäuben, ihm zum gedanken-und willenlosen Stück einer in bestimmter richtungsgetriebenen und gehetzten Herde […] zu machen.“ George Orwell in Reinform.

Die Nazis wussten: Sprache lenkt auch das Gefühl und steuert das ganze seelische Wesen.
„Das Gift ist überall. Im Trinkwasser der LTI wird es verschleppt, niemand bleibt davon verschont“, konstatiert Klemperer. Die Sprache verändert sich als erstes, Kunst, Kultur, Musik und Architektur folgen ihr nach, pflegt mein Vater zu sagen. Und Klemperer schrieb: „Denn ein Wort oder eine bestimmte Wortfärbung oder Wortwertung gewinnen erst da innerhalb einer Sprache Leben, sind erst da wirklich existent, wo sie in den Sprachgebrauch einer Gruppe oder Allgemeinheit eingehen und sich eine Zeit lang darin behaupten. “Wenn sich die Sprache „in den Köpfen etabliert hat, dann kann man zur Tat schreiten.“, schreibt Hanna Zobel in einem Artikel zur Nazisprache, (dem ein kleiner Selbsttest angehängt ist…).

Als Literaturprofessor hat Klemperer das passende Handwerkezeug zur Sprachanalyse und zum Sprachvergleich. Aber er analysiert nicht nur aus linguistischer Sicht, sondern eben auch aus historischer, aus menschlicher und aus religiöser Sicht. Diese Mischung der Analyse schafft eines der komplexesten Werke über den Nationalsozialismus, was unsere Zeit zu bieten hat. Kaum ein anderes Buch vermag es so genau zu erklären, woher nazistischer Antisemitismus kommt, wie Deutschtum sich hält, wie Rassismus in der Bevölkerung herausgebildet wird und wie systematisch die Nazis in ihrer (sprachlichen) Propaganda waren. Aus den hunderten Beispielen Klemperers setzt sich ein unverfälschtes Bild zusammen über die langfristig angelegte ideologische und sprachliche Propaganda-Taktik der Nazis.

Jedes Kapitel hinterlässt einen bleiernen, pappig-trockenen Nachgeschmack. Am eindrücklichsten bleibt mir das 18. Kapitel „Ich glaube an ihn“ in Erinnerung. Darin wird gezeigt wie die Nazis mit religiösen Floskeln gezielt auch den Letzten versuchten psychologisch zu vereinnahmen. „Der Nazismus wurde von Millionen als Evangelium hingenommen, weil er sich der Sprache des Evangeliums bediente“, erklärt Klemperer. Mitleid und Ohnmacht geben sich spätestens nach dem Lesen dieses Kapitels die Hand. Viel stärker aber wiegen Hilflosigkeit und Scham gegenüber der vorangegangenen Generationen, die das nicht unterbunden haben. Waren es den alle leichtgläubige, leicht mit Sprache zu manipulierende Affen? Gewiss nicht. Aber nicht jeder hinterfragt jedes Wort, was er hört nach seiner Bedeutung und Herkunft, sondern benutzt es, weil es überall um ihn herum verwendet wird. Er erlernt seine Bedeutung und frisst so in kleinen Happen die tödliche Ideologie.

Und das traf damals vor allem die Kinder. Klemperer berichtet von alten Lehrbüchern und einem Atlas für die Schule, den er auch nach dem Niedergang des Dritten Reiches fand. Zu den bunten geographischen Karten schrieb er: „Wie muss heute die Welt in einem Kopf aussehen, dem alles das in früher und widerstandsloser Kindheit farbig eingeprägt wurde!“
Klemperer notierte sich ein einem der letzten Kapitel selbst: „man muss den künftigen Lehrer auf die Eigenart und Sünde der LTI genau hinweisen“.

Bildung ist auch hier das Schlüsselwort. Ein erneutes Aufkommen rechtsradikalen Gedankenguts kann man nur nachhaltig unterbinden, wenn junge Menschen verstehen, wie stark Sprache und Sprachveränderung, Sprachverwendung und Sprachmanipulation wirken kann. Deswegen vertrete ich die Ansicht, dass „LTI“ in den Literaturkanon deutscher Gymnasien gehört. Wenn man weiß, wie diese Manipulation funktioniert, ist man eher davor gefeit ihrer zu erliegen und in der Lage sie zu erkennen und sich dagegen zu wehren. Denn, zuerst zielt nazistische Sprache auf die „dumme Masse“ ab, die sich leicht beeinflussen lässt. Klemperer erklärt immer wieder, dass alles darauf angelegt war das eigene Denken zu trüben oder auszuschalten und, dass die Nationalsozialisten dafür den Fanatismus in den Himmel hoben, damit den Zustand eines umnebelten Geistes mit tapfer, hingebungsvoll und beharrlich gleichsetzten und „Philosophie“ in „Weltanschauung“ umdeuteten.
Da die Nazis im Vorfeld schon systematisch die gefürchtete Intelligenzschicht als „krummnasigem Intellektualismus“ diffamiert hatten, hörte den Schlauen keiner mehr zu und die Nazis konnten einfach das Denken durch das Gefühl ersetzen – das Gefühl für Tradition und Brauchtum.

Heute sind es wieder die Studenten, die gegen Pegida und Co. auf die Straße gehen. Anfang Februar 2018 gab es dazu einen sehr guten Artikel in der Zeit über die Verantwortung der Studenten. Die Autorin schreibt, wie heute wieder „die Eliten“ von außen her (von links und rechts) angegriffen werden: „Wer Elite ist, ist nicht Volk, und wer Volk ist, ist nicht Elite.“ Der Artikel sieht die Entfernung von Volk und „Establishment“ als größte und wichtigste Ursache für den Aufstieg des weltweiten Populismus. Auch hier erkenne ich Klemperer wieder.
Doch selbst wenn sich  Studenten und Abiturienten ihrer Verantwortung wieder bewusst werden, so dürfen es nicht nur die Klugen sein, die sich wehren. Wehren gegen den blinden undifferenzierten Hass des Unbekannten, des Fremden muss sich jeder, der bei Sinn und Verstand ist. Und wehren muss man sich auch gegen den Hass wider die eigenen Eliten des Landes. Im Zweifelsfalle sind es die Eliten, die Gebildeten, die als einzige ein erneutes radikales Massendenken erkennen und zu verhindern wissen. Denn wir sind heute schlauer als damals, wir haben es schon erlebt und es gibt Zeugen. Wir müssen nur auf die Zeugen hören und daraus lernen.



Hier noch eine interessante Diplomarbeit zur „Sprache der NS-Propaganda


Bildnachweise:

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d9/Bundesarchiv_Bild_183-S90733%2C_Victor_Klemperer.jpg Bundesarchiv, Bild 183-S90733 / Kemlein, Eva / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons


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