"Der Vorleser" von Bernhard Schlink
Die
Geschichte spielt kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Der 15-jährige Michael ist
krank und lernt durch Zufall eine hilfsbereite junge Frau namens Hanna kennen.
Wochen später will er sich bei ihr für die Hilfe bedanken und verliebt sich in
die attraktive Frau Mitte dreißig. Sie lässt sich auf diese ungewöhnliche Liaison
ein und bittet ihn im Gegenzug ihr vorzulesen aus den Büchern, die er in der
Schule liest. Das geht so fast zwei Jahre. Die beiden machen sogar gemeinsame
Campingausflüge. Sie unterhalten sich über vieles, doch bei persönlichen Dingen
blockt Hanna ab. Und eines Tages ist sie spurlos verschwunden. Erst Jahre
später sieht Michael sie wieder - als Angeklagte in einem Gerichtssaal. Er ist
einer der Jurastudenten, die bei dieser Verhandlung anwesend sein dürfen. Es
stellt sich heraus, dass Hanna im Krieg in einem KZ gearbeitet hat und nun des Modes
an hunderten Frauen angeklagt wird. Dafür wird sie später auch zu einer
lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Michael kämpft in einem inneren
Konflikt gegen sich und seine Vergangenheit.
Während
des Prozesses begreift Michael, dass Hanna Analphabetin ist. Aus Angst, das
zuzugeben, gibt sie freiwillig lieber die volle Anklage zu, auch, wenn sie
weiß, dass sie einiges gar nicht getan hat. Nun sitzt sie im Gefängnis. Michael
beendet sein Studium, heiratet, bekommt eine Tochter und arbeitet als
Rechtshistoriker. Erst als seine Ehe in die Brüche geht, beschließt Michael
wieder Kontakt mit Hanna aufzunehmen. Er liest wieder vor und bespricht mehrere
Kassetten und schickt ihr diese. Zu diesem Zeitpunkt sitzt Hanna bereits 8
Jahre im Gefängnis. Jahre später schreibt sie ihm einen kurzen krakeligen Brief
und bedankt sich für die Geschichten. Mit Hilfe der Kassetten hat sie Lesen und
Schreiben gelernt und beginnt im Gefängnis mit der Aufarbeitung ihrer Taten.
Michael schreibt kein einziges Mal in den 10 Jahren, in denen er Kassetten
bespricht, zurück. Und erst als nach 18 Jahren einem Gnadengesuch Hannas
stattgegeben wird, besucht er sie zum ersten Mal. Er sieht eine alt gewordene
Frau und es ist nicht mehr das selbe, wenn er mit ihr zusammen ist. Hanna nimmt
sich schließlich das Leben kurz bevor sie aus der Haft entlassen wird. Will sie
damit Verantwortung für ihre Taten übernehmen?
Einfühlsam
hat Schlink diese innere Aufarbeitung mit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland
beschrieben. Den Protagonisten treibt die Schuldfrage der nachfolgenden
Generationen um. Er kann nicht Verstehen und Verurteilen gleichzeitig. Eine
wirkliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus hat weder im Osten noch
im Westen wirklich stattgefunden. Das Buch zeigt einmal mehr, dass uns
stupides schwarz-weiß-Denken nicht weiterbringt. Hanna wird als einfache
Frau mitten aus dem Leben
dargestellt. Sie ist normal, nicht besonders grausam oder besonders
schlecht
und doch kämpft sie mit ihrer grausamen Vergangenheit. Gerade weil
Schlink
"die Nazis" menschlich erscheinen lässt, ist dieses Buch vielleicht
ein erster Ansatz zur wirklichen Aufarbeitung. Jeder sollte sich die
Frage
stellen welche Rolle seine Großeltern oder Urgroßeltern im Zweiten
Weltkrieg
gespielt haben und aus welchen Motiven sie so handelten.
Es ist
mutig von Schlink den Tätern ebenfalls eine Opferrolle zuzubilligen,
gleichzeitig erklärt er Hanna für unmündig, weil sie eine Analphabetin ist. Wir
sehen die Auseinandersetzung mit dem Problem Täter und Opfer aus der Sicht des
Protagonisten Michael. Die Frage nach der Kollektivschuld war für seine
Studentengeneration erlebte Realität. Er ist nicht in der Lage sachlich über
die Schuldfrage nachzudenken, da er durch seine Beziehung zu Hanna seiner
Meinung nach selber zum Täter wird. Michael akzeptiert seine Vergangenheit
irgendwann einfach. Das macht es nicht leichter für ihn, aber niemand kann seine eigene
Vergangenheit ändern. Schlink schafft es immer wieder den Leser
zum Nachdenken anzuregen. Dabei hilft sein leicht verständlicher und doch
bildreicher Sprachstil. Doch eine Antwort auf die Schuldfrage finden, das muss
jeder Leser selbst.
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